top of page

Die Perlensammlerin

SB 2014

Die Perlensammlerin - das könnte der Titel für einen großartigen Roman sein. Allerdings dürfte die Hauptperson nicht auf dem Boden herumkrauchen um Perlen einzusammeln, daran müsste sie noch arbeiten.

Natürlich kroch sie auf dem Boden herum. Kleine, winzige, unsichtbare Perlen gaben kaum wahrnehmbare Lichtreflexe auf dem hellen Fußboden. Sie sammelte- natürlich- sie hatte schon immer gesammelt, seit sie denken kann, hatte sie gesammelt: Fäden und Knöpfe und Steine, die der Vater im Urlaub nicht tragen wollte, dabei gab es nichts wichtigeres, als Steine zu sammeln oder Muscheln, sie waren der Beweis, wirklich da gewesen zu sein, vom Vater getragen worden zu sein, ein Beweis, wenn alles wieder vorbei sein würde, dass es nicht nur ein Traum war, sie träumte viel und auch im Traum sammelte sie.

​

Die Perle glitt zwischen ihren Fingern hindurch, klickerte über den Fußboden und wurde wieder unsichtbar. Nicht sichtbar. Unwirklich. Steine zu sammeln machte die Welt sichtbar. Machte die Tage mit dem Vater wirklich. Natürlich, er war da, war immer da, er weckte sie jeden Morgen und jeder Morgen war gleich unwirklich. In die Schule geschickt werden bei Wind, Regen, Fieberwetter, ungeschützt, ohne Haut, der Ort der täglichen Niederlagen, die nicht sichtbar waren, nie sichtbar wurden, niemals. Eine Mutprobe für beide, für sie und den Vater, der morgenstill jeden Tag ihre Angst weckte. Die Angst war wach, bevor sie wach war. Sie rutschte aus ihren Händen, wollte sich nicht greifen lassen, jede Perle, die mühsam wieder in ihre Kiste fand, hatte fünf andere flüchten lassen, sie huschten mit leisem Klicken im Zimmer herum: klick, klick, klick, klick, klick.

Selig die Tage, an denen das Fieber endlich hoch genug war, an denen sie im Bett bleiben und Sauerkirschsaft trinken durfte, Saft von dem krüppeligen Wunderbaum, der ihr Reich beschützte: die Löwenzähne und Käfergräber mit den Holzkreuzen, von Kinderfingern mit Grashalmen zusammengebunden. Im Frühjahr ein Summen, leise und rhythmisch, dessen Saft man nur trinken durfte, wenn das Thermometer über 39° stieg, seliges Fieber, und einmal hatte der Vater ein Perlenspiel mit nach Hause gebracht, sie hatte im Bett bleiben müssen, obwohl sie voller Langeweileenergie war, ergeben in Wadenwickeln und Schwitzkuren und der Vater kam nach Hause, am Abend und brachte diese Wunderkiste mit: ein Pappkarton voller rosa und lila und türkisblauer Plastikkugeln, sie hatte sie bestaunt und nicht fassen können, und natürlich war es schwierig im Bett mit den Perlen, die das Bett verließen, das sie nicht verlassen durfte.
Sprangen im Zimmer umher, leise, rhythmisch und übermütig schneller werdend, und ihr Herz hüpfte, als sie anfing, diesen Schatz wieder einzusammeln und vorsichtig in der Pappkiste zu verstauen. Der Vater hatte einen Schatz mitgebracht, ein Beweis für sein Da- Sein, so gut wie jeder Stein und so gut wie der Zaubersaft, ein Schatz, aus dem Fieber geboren und Verheißung und Glück und Geliebtsein.

 

WP_20180719_10_49_37_Pro.jpg
swneu.jpeg-removebg-preview.png
bottom of page